Dietrich Pätzold, 2. April 2023
Da treffen Welten aufeinander: Der Motettenchor, das international renommierte Spitzenensemble der Rostocker St.-Johannis-Kantorei, singt im ehemaligen Stasi-Knast. Dort, wo zwischen 1960 und 1989 rund 4900 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert waren, lassen nun die Sängerinnen und Sänger unter Leitung von Kirchenmusikdirektor Professor Markus Langer die Auftaktfrage „Warum“ aus Johannes Brahms‘ Motette „Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen?“ makellos klar und mit sanfter Unabweisbarkeit im Raum schweben, als sollte das Wort nie wieder verstummen. Mit Brahms sowie Stücken von Max Reger, Kurt Nysted und Kim Andre Arnesen, berührend und voller klanglicher Raffinessen, erkundete der Chor den drei Stockwerke hohen Zellentrakt der Haftanstalt und ließ im einstigen Ort des Grauens die respekteinflößende Akustik einer Kirche erleben.
„Gesänge aus der Gefangenschaft“ heißt dieses Projekt des Volkstheaters Rostock unter der künstlerischen Gesamtleitung von Rainer Holzapfel, das mehrere Aufführungen im März neben dem Chor mit vier Gesangssolisten, sechs Tänzern und drei Schauspielern die Dokumentations- und Gedenkstätte (DuG) der Hansestadt bespielt hat. Selten hat eine „Theatrale Erkundung“, so der Untertitel, einen Ort derart umgedeutet: Vom antihumanen Ort der Demütigung, der psychischen Zersetzung von Menschen zu einem, an dem Besucher Ermutigung erfahren: im Klang der Genugtuung, das dieser Spuk vorbei ist.
Helga Priester, die Schwester einer ehemaligen Rostocker Motettenchorsängerin und selbst noch heute in der St.-Johannis-Kantorei singend, hat vor einiger Zeit eigene Erfahrungen ihrer sechsmonatigen Haft 1963/64 in diesem Haus im Buch „Fluchtweg Bulgarien“ (Zeitgut Verlag Berlin) aufgeschrieben.
Singen war im Gefängnis verboten
Interessant, wie sie sich dort mit ihrer Zellen-Freundin Renate gegen gespenstische Stille, das Kommando-Gebrüll und die drohende geistige Verarmung behauptete: „Obwohl das Singen im Gefängnis verboten war, übte Renate mit mir Kanons und zweistimmige Lieder.“
Bei den Aufführungen nun war das Haus erfüllt vom Chorgesang, und die Zuschauer, in drei Gruppen aufgeteilt, wandelten zu drei speziellen Spielorten und kamen zwischendurch immer wieder zu einem Chorauftritt im Gefängnisflur zusammen. Im Obergeschoss improvisierte die Tanzcompagnie zwischen den Zellen Situationen von Gefangenschaft und Identitätsverlust, Verrat und Gewissenskonflikt. Im Keller zeigten Schauspieler mit einer Textcollage über die neunmonatige Stasi-Haft des Schriftstellers Jürgen Fuchs in Berlin die methodischen Mechanismen der psychischen Zersetzung Inhaftierter. Im Erdgeschoss behaupteten Opernsänger in extrem engen Zellen ein Liederrepertoire von Trauer und Verzweiflung gegen die dort grässliche Akustik eines Betriebes zur Menschendisziplinierung. All das war kein Vergnügen im quotengetriebenen Entertainment-Rummel, aber wahrhaftiges Theater voller Relevanz. Denn Wahrheit tut weh, andernfalls ist es nicht die ganze Wahrheit. Und der Chor konnte den großen Rahmen um all diese Grässlichkeit: schließen – indem er im verhaltenen Glaubensbekenntnis von Kim Andre Arnesen mit einem Akzent der Hoffnung ausklang.