Rostocker Motettenchor auf den Spuren der Reformation
Benjamin Jäger
Es ist Sonnabend, der 24. Februar, zu später Stunde im Brauhaus Wittenberg. Wie vor 500 Jahren wird reichlich gebechert im Kernland der Reformation. Katharina von Bora soll für ihre Familie 4000 Liter Bier im Jahr gebraut haben. Und ihr Ehemann, der für seine 95 Thesen bekannte und als Martin Luder geborene Reformator, pflegte zu betonen: „Wer Bier trinkt, schläft gut. Wer gut schläft, sündigt nicht.“ Was man bei einer Stadtführung so alles lernen kann.
Kurz, aber gut schliefen die drei Dutzend Mitglieder des Rostocker Motettenchores nach einem gefüllten und erfüllenden Reise- und Konzerttag, der morgens bei strahlendem Sonnenschein begonnen hatte. Warum Wittenberg? Der Chor der Rostocker St.-Johannis-Gemeinde und ihr Leiter Markus Johannes Langer folgten einer Einladung zur Reihe fides cantat (Der Glaube singt) aus Anlass von 500 Jahren evangelischer Kirchenmusik, zu der zehn Ensembles aus ganz Deutschland, ausgewählt aus 40 Bewerbungen, Konzerte im Jubiläumsjahr 2024 beisteuern. Unter dem Motto „Du schöner Lebensbaum“ präsentierten die Rostocker in der Wittenberger Schlosskirche ein die Jahrhunderte umspannendes Programm geistlicher A-cappella-Chormusik, ergänzt um zwei Orgelstücke. Die Brücke an die Ostseeküste schlug gleich zu Beginn der Chorsatz „Uth deper noth roep ick tho di“. Der Rostocker Reformator Joachim Slüter hatte schon 1525 die Lieder und Chorsätze aus der 1524 entstandenen Sammlung des Torgauer Kantors und Luther-Vertrauten Johann Walter ins Niederdeutsche übertragen. Die archaische Kraft der vierstimmigen Renaissancemusik eröffnete den Klangrausch, dem etwa einhundert Zuhörende gespannt und mir merklicher Anteilnahme lauschten. Motetten von Felix Mendelssohn Bartholdy („Mein Gott, warum hast du mich verlassen“), Johannes Brahms („Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen“) und Francis Poulenc („Timor et tremor“) nahmen Ausführende und Publikum mit in die Abgründe menschlichen Seins. Mit „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“ von Zoltán Gárdonyi und „Even when he is silent“ von Kim André Arnesen brach sich die christliche Hoffnungsbotschaft mal tastend, mal ungebremst emphatisch Bahn. Mendelssohns „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren“ beschloss das Programm in inniger Betrachtung und brillianter Klarheit.
Der Sonntag stand ganz im Zeichen des Festgottesdienstes zum Jubiläum in der Torgauer Schlosskapelle – das erste als evangelische Kirche gebaute Gotteshaus. Nicht nur die vom Motettenchor dargebotenen Werke, sondern auch die von der Torgauer Kantorei gesungene Walter-Motette „Allein auf Gottes Wort“ und der kräftige Gesang von Gemeinde und Chören beim Luther-Credolied „Wir glauben all an einen Gott“ bildeten das würdige Herzstück dieses Gottesdienstes. Im Anschluss nahmen die Rostocker und Torgauer Sängerinnen und Sänger noch am Empfang im Rathaus teil und schlugen mit vereinten Kehlen im Gesang „Wir lieben sehr im Herzen“ des frühbarocken Rostocker Kantors Daniel Friderici eine Brücke zurück in den Norden und eine ins Brauhaus.